„Liebe Kunden, es war ein schwieriges/besonderes/verrücktes/herausforderndes Jahr“… „Hoffen wir, dass nächstes Jahr alles besser wird/die Pandemie vorbei ist/wir wieder [gewünschte Aktivität einsetzen] können“ – die Weihnachtsemails dieser Tage wimmeln von diesen Rückblicken und Wünschen. Zurecht.
Nur: was war es denn wirklich, dieses „andere“ Jahr? Welche Erkenntnisse, welchen Nutzen können wir ziehen?
Ich freue mich über jede Weihnachtsmail, und jeder der oben zitierten Wünsche tut mir gut, denn er macht erfahrbar, dass andere Menschen ähnlich fühlen wie ich. In diesem Post jedoch möchte ich einige persönliche Eindrücke teilen und ein paar Dingen etwas tiefer auf den Grund gehen. Es ist auch eine Art Fazit dieses ver-rückten Jahres, in dem so Vieles aus seinem normalen Bezugsrahmen gefallen ist, so viele andere Perspektiven sich eröffnet haben und neue Narrative entstanden sind, über die vor einem Jahr niemand gesprochen hat. Ich tue das in Form von einigen Thesen:
BESONDERS IST DAS NEUE NORMAL
Ich habe das Glück, in meinem Leben nie wirklich krank gewesen zu sein. Selbst eine Grippe sucht mich höchstens alle drei Jahre heim und dauert dann selten länger als 24 Stunden. Mit anderen Worten: Gesund zu sein, war immer so normal, dass ich es gar nicht mehr als einen Zustand wahrgenommen habe. Inzwischen überkommt mich in unregelmäßigen Abständen ein Gefühl großer Dankbarkeit und auch gewisser Demut: ich bin gesund, mir geht es gut. Selbstverständlich ist es nicht mehr.
Als nicht selbstverständlich empfinde ich auch anderes: unsere Firma ist gut durch die Krise gekommen (dazu unten mehr), wir blicken optimistisch in die Zukunft. Wir sind als Team gewachsen. Die persönlichen und geschäftlichen Beziehungen zu vielen Kunden und Partnern haben sich zum Teil vertieft. Ich erfahre gefühlt deutlich mehr persönliche Wertschätzung in Gesprächen (und selbst in Videokonferenzen) als vor der Pandemie.
Es scheint bei vielen Menschen zu einem geschärften Bewusstsein für die wirklich wichtigen Dinge im Leben gekommen zu sein. Anders kann ich mir das, was ich in diesem Jahr an positiven zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt habe, nicht erklären. Und selten habe ich Spaziergänge in der Natur intensiver wahrgenommen und wertgeschätzt als 2020.
Auf die Pandemie könnte ich verzichten. Über diese Entwicklung freue ich mich.
WISSENSCHAFT IST SEXY
Bei aller Dramatik und Tragik hat Corona der Wissenschaft einen riesigen Dienst erwiesen. Auch wenn die quer-, schräg-, anders- oder vielleicht auch gar nicht denkenden Menschen medial sehr präsent sind: In allen Umfragen ist erkennbar, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland die Maßnahmen der Regierenden zur Eindämmung der Pandemie mitträgt. Und die Maßnahmen basieren auf der Beratung von Politik durch Wissenschaft.
Nie zuvor ist die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis für politisches Handeln und gesellschaftliches Wohlergehen so deutlich geworden, wie in dieser Pandemie. Und das wird nach meiner Vermutung und Hoffnung enorme Auswirkungen auf Diskurse in anderen Feldern des politischen Handelns und gesellschaftlichen Diskurses haben: Wir wissen bereits seit 1972 (Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums) , dass unser Umgang mit der Erde aus Ressourcensicht eine Vollkatastrophe ist. Es brauchte dann Fridays For Future, um wirklich Schwung in das Thema zu bringen. In der Heckwelle dieser Bewegung hat Wissenschaft schon an Sichtbarkeit gewonnen. Doch erst Corona hat die Chance eröffnet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse endlich unmittelbaren Einfluss auf politisches Handeln auch in puncto Klimawandel bekommen.
Auf die Pandemie könnte ich verzichten. Über diese Entwicklung freue ich mich.
WAS FUNKTIONIERT, IST NICHT DATENSCHUTZKONFORM. UND UMGEKEHRT.
Wir haben auch vor Corona schon regelmäßig Videokonferenzen mit Kunden oder untereinander durchgeführt. Unsere Tools waren dabei entweder Teams oder Webex. Ab März hat sich unsere Toolwelt ein wenig erweitert. Merke: Konzern = WebEx, Mittelstand = Zoom oder Teams, Öffentliche Hand= ähm, also z.B. Adobe Connect, Jitsi, Big Blue Button, Blue Jeans, Lifesize, GoToMeeting…. Dazu kommen noch Exoten wie hopin und andere.
Wem positive Ausdrucksweisen wichtig sind, sollte über die Tools, die in Verwaltung und Schulen verwendet werden, am besten gar nicht sprechen. Daher nur kurz: Abstürze, Browserinkompabilitäten, keine Breakout-Rooms, kein Screensharing, kein Chat – bei jedem Tool fehlt irgendwas, meist ist es mehr als ein Feature, das schmerzlich vermisst wird. Mein persönlicher Negativ-Favorit: Adobe Connect, dicht gefolgt von LifeSize. Das eine scheint die Bandbreite ab drei Usern per Definition auf ISDN zu begrenzen, mit dem anderen habe ich mir meinen PC lahmgelegt, als ich es als Desktop App installiert habe. Nun nutze ich es im Browser, leider funktionert es nur auf Chrome, so dass ich jetzt auch Chrome nutze – neben Firefox, Opera und Edge. Man kann ja nie genug haben.
Und die Argumente gegen Zoom oder Teams sind immer dieselben: kein ausreichender Datenschutz. Das mag ja sein. Ich frage mich nur, was wichtiger ist: Dass 15 Leute gemeinsam die Digitalstrategie für einen Landkreis diskutieren können, oder dass Zoom, die NSA oder israelische Geheimdienst auf gar keinen Fall mitbekommen, dass Parkplatzsensoren teurer sind als CO2-Melder. Mein Highlight: die IT-Abteilung, die Ende 2020 die Einführung von Micrsoft Teams aus Datenschutzgründen stoppt und dann sofort und unmittelbar einen Evaluationsprozess startet, um eine Alternative Software auszuwählen. Geplante Vorstellung der Ergebnisse: Ende 2021.
Doch auch in diesem Thema steckt etwas positives Neues: Egal wie unzureichend die Technik auch sein mag – wichtig ist, was in diesem Jahr häufig erstmals, jedenfalls immer intensiv diskutiert wird. Viele Kommunen machen sich auf den Weg, Digitalisierung als Gestaltungsauftrag zu begreifen statt zu glauben, für Verwaltung würde sie keine Rolle spielen. Ich war erstaunt und freudig überrascht, in Städten, Kreisen und Ministerien Menschen zu treffen, die auf der einen Seite eine kritische Distanz zu Bürokratie haben und auf der anderen Seite entschlossen sind, die Vision einer wirklich gestaltenden, servicorientierten Verwaltung in die Tat umzsetzen. Die Beschränkungen durch Corona, die Verlagerung ins Digitale und das gestiegene Bewusstsein für pragmatische Lösungen haben auch das Denken und Handeln in den „Amtsstuben“ verändert.
Das ist gut so.
KRISEN KÖNNEN KREATIVITÄT FREISETZEN
Ich schlafe eigentlich immer gut. Nur im März 2020 habe ich zwei Wochen lang nachts wach gelegen und mir den Kopf zermartert, was wir tun können, um den Shutdown zu überstehen. In diesen beiden Wochen sind uns gut 90% der bereits fest eingeplanten Umsätze weggebrochen. Jeden Tag erreichten uns haufenweise E-Mails und Anrufe mit Stornierungen. Unser größter Kunde, der bis zu einem Drittel unseres Umsatzes ausgemacht hat, war von einem Tag auf den anderen wie ausgeknipst.
Während ich nachts schlecht schlief, arbeiteten wir alle tagsüber mit hoher Energie daran – ja woran? Daran, unser Alltagsgeschäft von analogen Präsenzterminen wie Meetings, Workshops, Großevents und Coachings umzustellen auf digitale Formate. Technisch war das einfach. Wir waren schon vorher digital unterwegs. Nur unsere Kunden spielten nicht mit. Die hatten ganz andere Probleme.
Nach den zwei Wochen war klar: Wir müssen umdenken. Das Alte loslassen. Neues entwickeln. Und es begann eine der spannendsten Unternehmensphasen seit Gründung von ECC. Während wir alle im Homeoffice saßen, baute ein Team in einer Reihe von Sprints eine digitale Plattform für Personalentwicklung auf (MAIN 7). Wir arbeiteten die Projekte ab, die nicht vom Shutdown betroffen waren, wir begannen die Arbeit für den Relaunch unserer Website und wir entwickelten zwei neue Geschäftsfelder, die es so bislang nicht gab und die beide shutdown-resistent sind.
Alles, was wir seitdem entwickelt haben, war schon vorher im Gespräch, zum Teil auch schon begonnen. Nur durch den Fokus auf die neuen Themen konnten wir all diese Aktivitäten schnell umsetzen, für die wir sonst vermutlilch zwei bis drei Jahre benötigt hätten.
Als wir aus dem ersten Shutdown zurückkamen, begannen wir, über Gesundheit zu sprechen und anders als bisher auf das Thema zu schauen. Ein Ergebnis dessen ist, dass wir als Unternehmen ein bike-leasing begonnen haben und wir uns nach und nach mit Fahrrädern und eBikes ausrüsten, um uns mehr zu bewegen und weniger Autokilometer auf die Straße zu bringen.
Mir selbst hat dieses Jahr eine Intensivierung meines Netzwerkes beschert. Es ist nicht nur größer geworden, sondern die vorhandenen Beziehungen haben sich auch vertieft. Durch die Fokussierung auf wenige Themen wie Smart City, neue Energien und innovative Projekte haben sich im Laufe der vergangenen Monate zahlreiche Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Projekten ergeben. Dadurch entstehen neue Ideen, Vorteile und echte „Netzwerkeffekte“.
Auf die Pandemie könnte ich verzichten. Über diese Entwicklung freue ich mich.
BILDUNG KANN ENDLICH BESSER WERDEN
Ich hatte an anderer Stelle schon darüber geschrieben, welche Chancen Corona für unser Bildungssystem bietet. In aller Kürze: Die Probleme unseres Bildungssystems sind in diesem Jahr wie durch ein Brennglas sichtbar geworden. Die Schulen verfügen weder über eine adäquate Hard- oder Softwareausstattung, noch verfügen die Lehrkräfte in Summe über die Fähigkeiten, mit digitalen Mitteln Unterricht zu gestalten. Viel gravierender ist aber: vielen Lehrkräften fehlt auch das Mindset, dass es braucht, um den Herausforderungen dieser Zeit, die weit über den Einsatz neuer Medien hinausgehen, gerecht zu werden. Aber auch hier hat die Pandemie Kreativität und Kräfte in einem Maße sichtbar gemacht und freigesetzt, wie wir es bis dato noch nicht erlebt hatten. Der Hackathon #wirfuerschule brachte über 6.000 Menschen aus ganz Deutschland zusammen. Viele Projektideen wurden umgesetzt, einige prämiert und eine ganze Reihe werden, zum Teil mit finanzieller Untersützung, fortgeführt. Ich habe zweimal als Coach Lehrkräfte und Schüler*innen auf die Begleitung von Klassen im Rahmen des #freiday vorbereiten dürfen. Zu sehen, wie sich Lehrkräfte mit teils mehreren Jahrzehnten Prägung durch unser Schulsystem auf den Weg machen, um Neues zu entwickeln, war berührend.
Der Wandel des Bildungssystems, der mit dem Diskurs darüber anfangen sollte, was Bildung eigentlich ist und was sie leisten sollte, geht mir immer noch zu langsam. Aber er hat begonnen.
Auf die Pandemie könnte ich verzichten. Über diese Entwicklung freue ich mich.
SOLIDARITÄT UND NEUE NARRATIVE WERDEN SICHTBAR
Natürlich ist diese Pandemie aus vielerlei Sicht und für viele Menschen einfach nur fürchterlich. Wir können vermutlilch noch gar nicht abschätzen, was dieses Jahr wirtschaftlich tatsächlich bedeuten wird. Gleichzeitig erleben wir eine Ge- und Entschlossenheit in der Politik, die im Vergleich zum politischen Alltag in normalen Zeiten geradezu unwirklich erscheint. Bei allen Fehleinschätzungen und bei allen Entscheidungen, die sich später als nicht hilfreich herausgestellt haben (weswegen ich sie noch lange nicht Fehlentscheidungen nennen würde) haben die politischen Vertreter in Stadt, Land und Bund in diesem Jahr Großes geleistet. Und wir erleben auf lokaler Ebene vielfältige Initiativen, von Privatmenschen, Unternehmen, Wirtschaftsförderungen, Stadtverwaltungen, Institutionen. Und es entsteht ein neues Bewusstsein für Themen, die seit vielen Jahren irgendwie bekannt sind, aber noch nicht den Weg in den breiten öffentlichen Diskurs gefunden haben: Fluch und Segen des Online-Handels zum Beispiel. Noch nie habe ich so viele Anregungen und Aufforderungen in meinem Umfeld wahrgenommen, direkt vor Ort zu kaufen und wenn schon online, dann wenigstens nicht bei Amazon.
Verantwortung des Einzelnen ist Gegenstand von Diskussionen in meinem Umfeld. Postwachstum ist plötzlich mehr als ein Schlagwort.
Und auch das ist etwas, das mich freut, bei allem Frust über die Pandemie.
WEIHNACHTEN IST PAUSE
Was bleibt am Ende dieses anderen Jahres?
Ich habe mich selten so auf die Ruhe und Pausenzeit zwischen den Jahren gefreut, wie in diesem Jahr.
Ich war selten so besorgt und so hoffnungsfroh zugleich wie im Augenblick.
Ich habe das Privileg, in Deutschland zu leben, mit einem bei allen Schwierigkeiten immer noch hervorragenden Gesundheitssystem, mit Politiker*innen, die trotz aller Egomanie einzelner in Summe überlegt und verantwortungsvoll handeln (machen wir uns bewusst: das hier ist eben nicht Weißrussland, Ungarn, Polen oder die Türkei), selten so stark empfunden wie in diesem Jahr.
Entschleunigung ist in diesem Jahr für viele eine neue Erfahrung gewesen. Die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, begrüßen sie.
Eine gemeinsame Sehnsucht nach dem „nach der Pandemie“ ist spürbar. Menschen helfen sich. Verbindungen enstehen.
Deshalb und von ganzem Herzen: Frohe Weihnachten und ein gutes 2021!